PFINGSTEN – Kraft, die bewegt und Leben schafft

Ich liebe den Frühling mit den kräftigen Farben der Blumen in den Gärten und an den Wegrändern; die Jahreszeit mit dem zarten Grün der Blätter an Bäumen und Büschen. Die Natur erwacht zu neuem Leben. So auch der japanische Kirschbaum in meinem Garten. Wie jedes Jahr hat er sich wieder in einen zartrosa Blütenschleier gehüllt. Einige Tage nur konnten ich und meine Nachbarn diese Blütenpracht geniessen, dann entrissen Winde den Ästen die feinen Blättchen und trugen sie mit sich fort. Nicht wenige davon landeten auf meinem Sitzplatz, auf welchem danach ein rosaroter Teppich lag. Der Wind, das «himmlische Kind» hatte dabei wieder ganze Arbeit geleistet!

Der Wind: Ein Element, das die Vorgänge in der Natur und auch Befindlichkeit von uns Menschen nachhaltig beeinflusst. So wechseln schöne Tage ab mit stürmischem Wetter. Winde treiben Wolken übers Land, bringen Hagelschauer und Regen oder vertreiben diese wieder. Je nach Wetterlage ändert die Windrichtung: Einmal ist es der Föhn, der den Himmel herausputzt und die Berge zum Greifen nah erscheinen lässt. Dann bläst uns unverhofft die Bise um die Ohren und lässt uns nochmals die warme Jacke aus dem Schrank holen. Jeder Wind hat einen eigenen Charakter und trägt vielfach einen Namen: So bläst in Südfrankreich der «Mistral», in Italien trägt der «Scirocco» seine sandige Fracht aus den Wüsten Afrikas nordwärts und bei uns lässt der «Föhn» im Frühling den Schnee schmelzen. Jeder Wind hat andere Auswirkungen: Stürmische Winde, wie Wirbelstürme und Tornados richten grosse Schäden an und können, wenn sie über dem Meer auftreten, sogar zu Sturmfluten führen. Sie können Feuer entfachen und Bäume entwurzeln. Andere Winde wiederum sind von angenehmer Natur: Sie künden uns von Frühling, tragen uns die Düfte zu von Blumen und frischgemähtem Gras und spenden Kühlung in heissen Sommernächten. Sie rütteln uns auf und lassen in uns Saiten anklingen, die wir verloren geglaubt haben. Sie inspirieren uns und lassen uns eine Lebendigkeit erleben, die wir längst verloren geglaubt haben.

Dieses Wochenende ist Pfingsten. Für viele ist es die Gelegenheit, die freien Tage zu nutzen und wegzufahren. Es ist auch die Zeit, wo die Alpenpässe wieder vom Schnee befreit sind und sich Töfffahrer den Fahrtwind um die Ohren blasen lassen.

Pfingsten ist auch ein Fest im christlichen Jahreskreis. Es wird seit etwa 1500 Jahren am fünfzigsten Tag nach Ostern gefeiert. Es ist somit älter als das Weihnachtsfest. Und Pfingsten ist nach Weihnachten und Ostern das dritte grosse Kirchenfest. Alle Feste bilden eine Einheit.

Im Judentum war Pfingsten ursprünglich ein Erntefest mit Dankopfern. Während das Pessach-Fest (Ostern) den Beginn der Getreideernte markierte, wurde am fünfzigsten Tag darauf der Schawuot begangen, der Tag der Darbringung der Erstlingsfrüchte. Später wurde dieser Tag auch als Wochenfest bezeichnet. Als christliches Fest wurde Pfingsten erstmals im vierten. Jahrhundert erwähnt. Der Name Pfingsten wird vom griechischen Wort «pentekosté», der Fünfzigste, abgeleitet. Er entwickelte sich über den gotischen Ausdruck «paintekuste» und das mittelhochdeutsche Wort «pfingesten» zu «Pfingsten». Das Wort meint also einfach mal den zeitlichen Abstand von 50 Tagen zu Ostern. An Pfingsten erinnern sich die christlichen Kirchen an die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Jüngerinnen und Jünger Jesu:

«Als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle (Jüngerinnen und Jünger) an einem Ort beisammen. Da brach plötzlich ein Tosen vom Himmel herein, als ob ein gewaltiger Sturm heran jagte, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen. Und sie sahen eine Erscheinung, also ob Zungen wie von Feuer sich verteilten und sich einzeln auf jede und jeden von ihnen setzten.» (Apg 2, 1-3)
Vom Geist ist die Rede an Pfingsten. Er soll sie alle erfüllt haben, die dabei waren damals. Im Hebräischen, der biblischen Ursprache, ist das Wort dafür weiblich und heisst «Ruach», das heisst Wind, Hauch, Atem, Lebenskraft und Energie und steht für die schöpferische Vitalität. Diese schafft Raum, führt aus der Enge heraus und macht lebendig. Ganz ursprünglich hat dieser Begriff einen Zusammenhang mit der Geburt, die ja dem Leben Raum schafft und es ans Licht bringt. Ruach ist mit dem Wort für Mutterschoss, Gebärmutter (Rechem) und Barmherzigkeit, Erbarmen (Rachamim) verwandt. Die geisterfüllte Pfingstkraft bricht Verkrustetes auf, löst Erstarrtes, macht Verstecktes sichtbar, beendet ungerechte Herrschaftsverhältnisse und nimmt uns die Angst vor Veränderungen und Wandlungen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sowohl Wind wie Geist aufs Erste nicht sichtbar ist. Einzig und allein durch ihre Wirkung: Der Wind bläst die Blütenblätter vom Kirschbaum. Der Geist beflügelt die Menschen und macht sie offen füreinander und für die Welt. Wo Menschen von gutem Geist erfüllt sind, geschehen positive Veränderungen. Etwas Ähnliches ist den Freunden und Freundinnen Jesu am Pfingstfest widerfahren. Auch sie wurden wachgerüttelt: Sie vernahmen vom Himmel her ein Brausen, wie von einem heftigen Sturm, das das ganze Haus erfüllte, in dem sie sich befanden. Sie wurden vom heiligen Geist erfüllt, eilten aus dem Haus auf die belebten Strassen und Plätze und verkündeten in vielen Sprachen Gottes grosse Taten.

Solche charismatische Ereignisse, wie sie der Evangelist Lukas in der Apostelgeschichte schildert, sind nicht programmierbar und schon gar nicht machbar. Sie sind immer ein Geschenk des Augenblicks. Und meistens sind sie auch ganz unspektakulär. Wie mein Pfingstwochenende: Ich bleibe zu Hause und geniesse meinen Garten. Unter meinem japanischen Kirschbaum sitzend wiege ich meinen zwei Monate alten Sohn in den Schlaf. Ich staune über das Wunder dieses kleinen Wesens und erinnere mich, wie er das Licht der Welt erblickt und sich Raum in meinem Leben geschaffen hat. Während ich meinen Gedanken nachhänge, umspielt uns beide der Wind und dabei geht mir durch den Kopf, dass es sich so anfühlen muss, wenn Ruach, die schöpferische Kraft ihre Hände im Spiel hat.

Esther Gisler Fischer, Theologin.