Kein Rückzug in die geistige Provinz

Kommentar in der RP zum Thema „Interreligiöser Dialog - Interreligiöses Handeln"

Während der letzten 15 Jahre ist es in der westlichen Welt vermehrt zu öffentlichen Debatten über Religion und Kultur gekommen, veranlasst durch Migrationsströme, aber auch durch Ereignisse des weltweiten Terrorismus. Ein „Kampf der Kulturen“ (nach dem Titel des Buches Clash of civilisations and the Remaking of World Order des US-amerikanischen Politologen Samuel Phillips Huntington) wurde allenthalben diagnostiziert. Reflexartig wird nun in der westlichen Welt die abendländisch-christliche Leitkultur beschworen, dies in Abgrenzung vor allem zur islamischen Welt. Damit verbindet sich eine eindimensionale und undifferenzierte Konstruktion von Identität die wenig Raum lässt für Eigendefinition. Die Diskussion droht somit, in die „Identitätsfalle“ zu tappen, vor welcher der Nobelpreisträger und Wirtschafts-wissenschafter Amarty Sen in seinem Buch „Die Identitätsfalle. Warum es keinen Kampf der Kulturen gibt“ so eindrücklich warnt. In Zeiten allgemeiner Verunsicherung mag eine solche Rückbesinnung verständlich und nachvollziehbar sein. Es ist eine Tatsache: Die Schweiz ist multiethnischer und multireligiöser geworden. Der Rückzug in die geistige Provinz ist jedoch trügerisch und hilft nicht, die Herausforderungen des Zusammenlebens zu meistern. Spätestens an diesem Punkt wäre es an der Zeit, dass sich die Kirche in diesen Diskurs einschaltet. Dabei ist sie aufgerufen, ihre eigene Rolle in einer pluralistischen Gesellschaft vermehrt zu reflektieren und sich darin zu verorten. Sie kommt dabei nicht umhin, einen ehrlichen Blick in die eigene Geschichte und die des Kontinents zu werfen: Viele heute selbstverständliche Freiheitsrechte mussten ihr abgerungen werden. Zudem war Europa schon lange geprägt durch verschiedene Kulturen und Religionen. Zu erwähnen ist das europäische Judentum. Und der Islam in Bosnien und Herzegowina blickt auf eine 600 Jahre lange Geschichte zurück. Ab 1878 pflegte der Imam von Sarajewo am Freitag für den k.u.k. Monarchen zu beten. Will die Kirche heutzutage im Bereich des gesellschaftlichen religiösen Zusammenlebens relevant sein, muss sie sich aus dem Ghetto des innerkirchlichen Sprachspiels heraus begeben und sprachfähig werden gegenüber den Anderen. Im Anknüpfen an die biblischen Traditionen im Umgang mit den Fremden / den Anderen liegt ein grosses Potential an hilfreichen und befreienden Zugängen. Dieser Schatz ist zu heben und für das Zusammenleben fruchtbar zu machen. Die Relativierung der eigenen Religion ist dabei jedoch unabdingbar. Und der Referenzpunkt ist dann die verfassungsmässige Rechtsordnung, der alle hier Lebenden unterstehen. Doch auch die Aneignung von interkulturellen und interreligiösen Kompetenzen ist vonnöten. So kann das biblische „Leben in Fülle“ in der Begegnung mit den Anderen zu einem „Guten Leben für Alle“ werden.

Esther Gisler Fischer, VDM und Integrationsfachfrau